Soester Navigation begeistert in Bremen
SPD-Bürgerschaftsabgeordneter Rainer Hamann lud Experten zum Fachgespräch
„Blinde Menschen müssen nicht nur wissen, in welcher Richtung ihr nächstes Ziel liegt. Sie müssen auch wissen, wo sich Baustellen, Treppenstufen und Hauseingänge befinden“, erklärte Bremens Landesbehindertenbeauftragter Dr. Joachim Steinbrück. Anlass für seine Aussage war das Fachgespräch „Sehende Stadt“ über digitale Leitsysteme für blinde und sehbehinderte Menschen, zu dem der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Rainer Hamann am Mittwoch, 24. September 2008 in die Fraktionsräume geladen hatte.
Hintergrund des Gesprächs war der Beschluss der Stadtbürgerschaft vom Juli 2008, einen Stadt- und Hotelführer für mobilitätsbehinderte Touristen zu erarbeiten. Dieser soll möglichst bis zum Kirchentag im kommenden Jahr auch in elektronischer Form fertig sein und für Menschen im Rollstuhl etwa Auskunft über Strecken und Verkehrsmittel geben. Die SPD-Bürgerschaftsfraktion möchte diesen Hotelführer ebenfalls für blinde und sehbehinderte Menschen anbieten können.
Als Sachverständige aus den verschiedenen Fachgebieten waren SPD-Staatsrat Dr. Joachim Schuster und Dr. Katja Eichler als Vertreter der Bremer Senatsverwaltung anwesend. Eigens aus Nordrhein-Westfalen angereist, erklärte Jörn Peters von der Kreisverwaltung Soest als Initiator das Projekt NAV4Blind. Zudem nahmen die Bremer Fachleute Martin K. Fliege und Jörn Beulke von GeoInformation Bremen neben Christoph Theiling vom p+t Planungsbüro sowie Jens Wünderlich und Oliver Zeller als Vertreter digitaler Lernwelten von der engram GmbH an dem Gespräch teil.
Gemeinsam erörterten sie die Möglichkeiten bereits vorhandener Systeme, die Anforderungen der Nutzer und die realistischen Voraussetzungen zur Entwicklung eines Mobilitäts-Hilfsmittels. Wie man erste Schritte in die richtige Richtung setzen kann, erklärte Jörn Peters. Federführend leitet er die Kooperationsgemeinschaft NAV4Blind, das die Entwicklung, Umsetzung und Verbreitung eines satellitengestützten Navigationssystems zum Ziel hat und dabei eine Vorreiterrolle in Deutschland einnimmt. Die zündende Idee zu dieser Initiative kam von Peters höchst selbst – nach einer Unterhaltung mit einem blinden Jungen, der von seinen Schwierigkeiten im Alltag berichtete.
Das in der Innenstadt der nordrhein-westfälischen Stadt Soest erprobte Pilotprojekt, soll später einmal die genaue Position des blinden Anwenders erfassen und ihm eine zentimetergenaue Führung in einem 30 bis 50 Zentimeter breiten virtuellen Korridor ermöglichen. Kurz: Das System soll den Anwender über Treppen, Hauseingänge, Ampeln und für ihn aktuell gefährliche Gegebenheiten wie Tagesbaustellen informieren. Durch vielfältige Informationen über die jeweilige Umgebung soll den blinden und sehbehinderten Menschen eine verbesserte Mobilität und Lebensqualität ermöglicht werden. „Barrierefreiheit ist für alle wichtig. Das ist natürlich ein hoher Anspruch, den wir umsetzen möchten“, erklärte Peters.
Das hoffen sicherlich auch die 155.000 blinden und 500.000 sehbehinderten Menschen in Deutschland. Grund genug für den SPD-Abgeordneten Rainer Hamann nachzuhaken und auszuloten, ob auch die Hansestadt von der prämierten Idee aus Soest profitieren könnte. Denn: Die Datenergebnisse des Pilotprojektes NAV4Blind lassen sich nach Aussage Peters hinterher auf weitere Städte bundesweit übertragen.
Als ein möglicher Nutzer solcher Systeme war auch der Soester IT-Fachmann Gerhard Renzel, seit zwanzig Jahren blind, anwesend. Wie vor ihm schon Steinbrück empfahl er den Sachverständigen, auf bereits bestehender Technik aufzubauen. „Ich habe kein Interesse daran, meinen Rucksack mit diversen technischen Geräten auszustatten und hinterher wie ein Marsmensch mit vielen Antennen herumzulaufen“. Dass eine Weiterentwicklung absolut notwendig ist, machte Renzel deutlich: „Nach Enttäuschungen geht man nicht mehr vor die Tür“, erklärte er. Schließlich gehe es nicht nur um die richtige Bahn, sondern vor allem auch darum, den Einstieg zu finden. Im Besonderen dann, wenn drei Bahnen hintereinander stünden.
Dem anschließend stellte Dr. Joachim Steinbrück die Frage, was Blinde und sehbehinderte Menschen eigentlich an Informationen verarbeiten können und machte klar, dass man gerade bei der Bewältigung des Alltags noch viel Entwicklungsarbeit leisten müsse. Auf rein akustische Signale zu setzen, reiche jedenfalls nicht mehr aus, so der Beauftragte. Denn ein hoher Geräuschpegel verwirre häufig im Alltag. „Es bringt ja nichts, wenn ich den ratternden Presslufthammer vor mir höre, die von hinten anrauschende Bahn aber nicht“, bemerkte Steinbrück süffisant.
Um seine ehrgeizige Idee umsetzen zu können, setzte Peters auf eine Kooperationsgemeinschaft aus Wirtschaft, Forschung, Wissenschaft und öffentlichem Dienst. Soest erhielt dafür das Prädikat als Stadt im „Land der Ideen“. In dem Bremer Gespräch wurde daher auch über Förder- und Finanzierungsmöglichkeiten beraten. Da blieben EU-Möglichkeiten nicht lange ungenannt. In diesem Zusammenhang erinnerte Dr. Katja Eichler aus der Europaabteilung beim Senator für Umwelt, Bau, Verkehr und Europa daran, dass EU-Projekte auch immer die Suche nach einem Partner in Europa bedeuten. Bei der Partner-Recherche wolle die Behörde aber gerne unterstützen. „Weil so ein Projekt eine Menge Geld kostet, müssen wir über Grenzen hinaussehen“, stärkte auch der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Manfred Oppermann die Idee eines europäischen Projektes und warb für den Aufbau einer Europäischen Modellregion.
Martin K. Fliege und Jörn Beulke von GEOInformation Bremen zeigten sich begeistert: „Wir haben in wenigen Stunden viele Aspekte für ein solches Projekt in Bremen gesammelt und festgestellt, wen und was man alles angehen muss, um die vielen Interessen unter einen Hut zu bekommen“, sagte Fliege. Nach dreieinhalb Stunden Gesprächszeit brachte es Steinbrück in einer Finalfrage schließlich auf den Punkt: Was wir heute kennengelernt haben, ist technisches Neuland in Soest – will und kann Bremen das auch machen? Die Anwesenden waren sich einig: Bremen kann und sollte von einem Projekt wie NAV4Blind profitieren.
Autor: André Nonnenkamp, SPD-Bürgerschaftsfraktion